Vom Glaubenswahn, Lebkuchenhäuser backen und Hänsel und Gretel Deutungen…

Musik führt zusammen oder auch nicht. Dieses Jahr hatte ich wenig Zeit für meine kleine Schwester, aber an meinem Geburtstag etc. war ich zu-hause und sie  musste (zu ihrem Leidwesen) an meiner kurzfristigen Obsession mit dem  obigen Musikstück teilhaben, was zu dieser etwas unmutigen Mail-Antwort führte:

 

…1 Grund warum ich meine Schwester hasse ist der:Pastime with good Company! Läuft derzeit hoch und runter in meinem Kopf, sodass ich mich derzeit gezwungen sehe mir das schon seit über ner halben Stunde reinzuziehen -,-

Und hier meine Erwiderung:

Ein Grund warum ich meine Schwester LIEBE  – ist, dass sie jetzt auch „Pastime with good Company“ hört….Dann können wir das gemeinsam an Weihnachten der Familie vorsingen…Ist eben ein „mittelalterlicher“ Ohrwurm…Oder aber auch ein gewaltiger Renaissance-Tinnitus…

 

Vielleicht war es aber auch der Kontext meiner drögen Monologe über die Verquickung der menschlichen Seele und der Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens, die das Ganze zu einem solchen Ohrwurm für sie hat werden lassen:
Ich frage mich immer noch: Wie kann  jemand etwas so SCHÖNES erschaffen und gleichzeitig in die Annalen der Geschichte als skrupelloser Herrscher (mit einem Hang zur Hinrichtung zweier seiner 6 geehelichten Frauen eingehen)??? Heinrich VIII ist eine sehr ambivalente Figur: Als junger Mann liebt er die Musik, hat selbst eine schöne Countertenor-Stimme und verhält sich für einen Herrscher eher ungewöhnlich, indem er selbst singt und komponiert.
Die Heirat zu seiner ersten Frau Catherine Aragon sieht er nach Ausbleiben eines männlichen Thronfolgers als Versündigung an Gott und Inzest an (und evtl. auch unbewusst als Betrug an seinem Bruder), der eigentlich der Thronfolger war und Catherine zuvor sehr jung geheiratet  hatte, dann aber verstorben war…Die Ehe galt als nicht vollzogen und Catherine bei ihrer zweiten Ehe immer noch als Jungfrau.

Heinrich VIII litt darunter seine erste Frau aus seiner Überzeugung – nicht ganz unbefleckt geheiratet zu haben und diese Sünde führte in seinen Augen zu dem fehlenden männlichen Thronfolger.
In der populären Geschichtsschreibung wird Heinrich VIII heute vorwiegend als Frauenmörder geächtet, aber gilt auch als Bringer der anglikanischen Version des Protestantismus… (Obwohl er nicht einmal überzeugter Anhänger dieser Reformen war, aber politische Umstände die er nicht ausitzen wollte, brachten ihn in Konflikt mit dem Papst, der die Ehe zu Catherine nicht annulieren wollte, sodass er nicht mit dem Segen des Papstes neu heiraten durfte) Ebenso ironisch ist, dass er auf Drängen seiner letzten Frau (Katherine Parr), die nicht auf dem Schafott endete, seine beiden Töchter aus den vorigen Ehen als rechtmäßige Erbinnen wieder einsetzte und somit eine weibliche (matrimonale) Herrschaftsfolge in Großbritannien sicherte, aber sein Heirats- und Hinrichtungswahn insbesondere daraus resultierte, dass seine Frauen keinen „männlichen Thronfolger“ gebaren …(Sein spät geborener Sohn verstarb im Jugendalter und war nur kurze Zeit auf dem Thron. Die Töchter Heinrich VIII gingen in die Geschichtsbücher als „Bloody Mary“ (Restauration des katholischen Glaubens/ Protestantenhinrichtungen) und Elisabeth I (anglikanischer Protestantismus, Renaissance, Hochkultur (Ben Jonson, Shakespeare), aber auch Hinrichtung Mary (Queen of Scots)/Ende der Tudorherrschaft ) ein…

Angesichts so vieler Hinrichtungswahn aufgrund von Glaubensrichtungen und ihren politischen Implikationen frage ich mich warum wir Weihnachten überhaupt feiern? Was wir da feiern und ob wir uns der christlichen Traditionen mit all ihren Implikationen: Kreuzzügen, Machtmißbrauch des Vatikans, der Herrscher sowohl des Protestantismus/Katholizismus bewusst sind? Das Alte Testament ist ohnehin eine Ansammlung reiner Grausamkeiten, die allenfalls im 5fach übertragenen Sinne als Menschheitsgeschichte und Parabel der Unmenschlichkeit für mich eine Bedeutung haben…

Da ist es doch eher neutral, wenn man sich in der besinnlichen Vorweihnachtszeit eher auf die germanischen Traditionen besinnt und ein Lebkuchenhaus backt, welches in der romantischen Märchentradition der Grimms steht und an das „Knusper, Knupser Knäuschen“ Hexenhaus von Hänsel und Gretel erinnert.
Meine Schwester kam zu mindestens im letzten Jahr auf diese geniale Idee, dass wir gemeinsam unbedingt ein Lebkuchenhaus backen, bauen und basteln sollten…Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, da ich ja eigentlich schon Pudding kochen für eine Überforderung halte. Ich bereite allenfalls Yum-Yum Fertignudeln zu.

Aber nun gut: Es schien ein Herzensanliegen meiner Schwester: Denn im vorletzten Jahr, als meine Schwester noch im Betreuten Wohnen weilte, hatte das Meisterwerk eines angefangenen Lebkuchenhauses leider dem Leben nicht Stand gehalten und war in sich zusammengebrochen. (Dramatisch) und jetzt wollte meine Schwester in ihrer vollen Selbständigkeit beweisen, dass sie in der Lage war ein solches zum Stehen zu bekommen…So als Übergangsritus ins Erwachsenenleben, was sie mit dem vollendeten 18 Lebensjahr erreicht hatte…(Ja, sie ist 13 Jahre jünger als ich uns somit kann man sich nun ausrechnen wie alt ich bin…Oh Gott, ich bin wirklich ALT…)

Verpsychologisierend betrachtet ist also das Backen eines solchen Hauses auch keineswegs neutral, sondern mit der Überwindung der ödipalen Phase in Verbindung zu bringen….Zu mindestens wenn man dem Psychoanalytiker Bettelheim folgt, der mit seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ allen Heranwachsenden der 68er Generation nachhaltig geschadet hat: Denn einerseits Toleranz, Ambivalenz und alle Facetten des Dazwischenseins gelehrt zu bekommen, um dann als Kind wieder in eine schwarz-weiße Welt aus klaren gut/böse Zuordnungen geworfen zu werden -mit Todesstrafen und Gnadenlosigkeit – passt doch irgendwie nicht zusammen. Meine Mutter hat mich mit Grimms Märchen regelrecht gequält: Ich habe als Kind Märchen gehasst und mir aus Protest die Ohren zugehalten. Insbesondere als in einem anderen Märchen die böse Königin in eine Tonne mit Nägeln gesteckt und zu Tode gerollt wurde, hatte ich wochenlang Alpträume… Daher hat meine Schwester von mir nie Märchen vorgelesen bekommen, denn sie sind m.E. gewalttätig und von einem schwachsinnigen gut-böse Schema geprägt, dass man nicht einmal 5 Jährigen Kindern antun muss…Das Kunstmärchen war ja eigentlich auch nie ein Kindermärchen…,und dass die Grimms alten Weibern solche abgelauscht haben ist ein von Ihnen erfundener Mythos…Vorwiegend kamen die Erzählungen von einer hochgebildeten Französin, die keineswegs ihren Kindern solche Schauergeschichten näher brachte…Allerdings ist es bis ins Bilungsbürgertum verbreitet, dass die Mehrzahl der Märchen aus dem Volk selbst kamen. Eigentlich war es aber umgekehrt: erst durch die Publikation der Grimm’schen Märchen und den ganzen Illustrationen und Bebilderungen wurde es zu einem Kinder- und Volksbuch…)

Aber wie war das nochmal mit Hänsel und Gretel und der psychoanalytischen Deutung des Lebkuchenhauses als Mutter…???
Ach, nee der Verbrennung der Hexe als Mutter oder der Verspeisung des Hauses als ödipale Fixierung und eigentliche Verspeisung der Mutter???
Denn die Hexe und das Haus sind eins und ineinander verschmolzen. Bzw. symbolisiert das Haus ihr Elternhaus… Ich wäre dafür, dass das Haus auch die Brust der Mutter symbolisiert und Hänsel und Gretel nicht nur einfach Hunger haben, sondern sich auch noch am Busen der Mutter vergehen..Ich meine des Hauses..Wie auch immer…Also wenn ich das ganz theoretisch mit Bettelheim fasse, dann verkörpert:

„Die Geschichte von Hänsel und Gretel […] die Ängste und Lernaufgaben des kleinen
Kindes, das seine primitiven oralen und daher destruktiven Wünsche überwinden und
sublimieren muss“

Und die Tötung der Hexe ist eigentlich super, denn sie stellt die Befreiung der Beiden von ihren „oralen Fixierungen“ dar und sie haben somit alle ihre destruktiven Wünsche überwunden. Gedankensprung: Wir backten also nicht nur ein Lebkuchenhaus, sondern töteten rein symbolisch auch unsere Mutter und sublimierten nicht länger unsere Triebe…(Was ist aber nun der Schluss daraus: Sollten wir alle unsere Mütter in Backöfen stecken, um unsere ödipale Phase zu überwinden??? Natürlich nur symbolisch!

Aber Nein, sagt die marxistische Kritik: Es war ja gar nicht die Mutter, die im OFEN landete, sondern irgendeine Frau, die uns an unsere Mutter erinnert und wir sind somit nicht von unserer Destruktivität befreit…

In der marxistischen Interpretation kommt dann auch Hänsel und Gretel eher schlecht weg:
Fetscher nennt sie auch eine präfaschistische „Progrom-Story.“ Denn wissen die Kinder eigentlich, dass die Hexe eine Hexe war und wird hier nicht eigentlich eine Außenseiterin der Gesellschaft ermordet? Diese frevelhafte Tat entspringt nämlich dem sozialen Milieu des verarmten Kleinbürgertums, das durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nun stark bedroht ist…Wir denken nur an die armen hungernden Weber und vergleichen das mit der Position der Eltern in diesem Märchen. Der Sozialdarwinismus prägt die psychische Struktur der Eltern: wenn sie überleben wollen, müssen ihrer Meinung nach die Kinder sterben…Dies wirkt sich auch auf Gretel aus,
die mit vollendeter Skrupellosigkeit eine wehrlose Frau in den Ofen schiebt. Gretel „wiederholt“ also das an ihren Eltern, was zuvor ihr angetan wurde und enteignet sich von einem als wertlos empfundenen ‚Außenseiter‘… Die individuelle Bereicherung aller Beteiligten deutet in groben Zügen dann voraus, was in verschärfter Form im 20. Jahrhundert wieder-auftauchen wird und die faschistischen Bewegungen in Deutschland namentlich kennzeichnet…

Folgernd verboten die Alliierten nach dem 2 Weltkrieg sogar aus diesem Grunde Hänsel und Gretel. Denn das Märchen war ein Symbol für die Fixierung der Deutschen auf die Verbrennung von vermeintlichen Andersartigen und wurde im Zusammenhang mit den Hexenjagden und Verbrennungen des 16. und 17. Jahrhunderts gesehen. Die Interpretation war, dass in den Öfen von Auschwitz nur zu deutlich das Märchenmotiv wieder kehren würde…
Wobei die Nazis sich sogar temporär mit den Hexen als vermeintliche Schöpferinnen einer germanischen Urreligion identifiziert haben.Nur um wieder einen anderen Außenseiter und Todfeind zu erklären: Heinrich Himmler wollte einerseits die Juden für die Hexenjagden (des Mittlealters) verantwortlich machen und arbeitete gleichzeitig selbst an einer Hexenjagd alles „Ü-bersteigende“: am monströsen Vergasungsmord, dem Holocaust. Juden werden also gleichzeitig zu den Außenseitern „Hexen“ degradiert und als Anstifter des einstigen Hexenmordes gesehen.
Ob aus diesen historischen Erwägungen die RAF-Mitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin sich für die Code- bzw. Decknamen Hans und Grete entschieden?

Jedenfalls können wir an der populären Kultur heute sehen, dass das Verbot von Hänsel und Gretel durch die Allierten wenig Erfolg hatte…(Die im Süden der USA in den 40/50er Jahre auch noch munter öffentlich Lynchmorde an Afroamerikaner begingen. Somit wohl auch nicht jenseits der Lehrmoral von Hänsel und Gretel standen.)
In Deutschland wurde schon in den 50ern das Märchen mit Liedern etc. zelebriert und hochmodern und noch heute brät man die Hexe im Kindergarten…Ist das nun schlimm????

Sollte man doch eher lehren, dass Gott ein gerechter Gott ist, weil er Abrahams Sohn nicht tötete, als er diesen Gott als Menschenopfer darbot und verbrennen wollte???

Brauchen wir neue Menschenopfer, die sich freiwillig verbrennen lassen? Sklavinnen, die mit ihrem Herrscher sterben, wie bei den alten Ägyptern oder vereinzelt in Wikingerkulturen??

Und darf man heute noch Lebkuchenhäuser backen ohne sich zu schämen?

Müsste man Hänsel und Gretel in ein marxistisches Lehrmärchen umdichten, indem nicht die Hexe stirbt, sondern ehhhm wer eigentlich…??? Die Banker und Manager??? (Sind ja auch reiche, aber arme Schweine ohne eigene Gestaltungsmöglichkeiten, wie Bourdieu richtig erkannte. Aber wer ist denn der Hauptfeind, wenn nicht der Ultrakapitalist?

Wie wäre es: Gretel verbrennt (verschmelzt) einfach alles Gold und führt den Kieselsteinstandard ein…??? Kieselsteine gibt es genug…Und das Welternährungsproblem wäre gelöst…

Ach ja, übrigens war die marxistische Interpretation eigentlich eine Parodie:

Iring Fetscher (1974): Hänsel und Gretels Entlarvung oder Eine Episode aus der Geschichte des Präfaschismus. In: Iring Fetscher: Wer hat Dornröschen wachgeküßt? Das Märchen-Verwirrbuch. Fischer, Frankfurt a. M.

Zum Sonstigen weiterlesen:

David Swarz (1997): Culture and Power: The Sociology of Pierre Bourdieu

Linda Porter (2011): The Remarkable Life of Katherine Parr, the Last Wife of Henry VIII

Bruno Bettelheim (1986): Kinder brauchen Märchen